Chilenische Metastasen – Vor fünfzig Jahren experimentierte die faschistische Diktatur der Andenrepublik mit einer Neuauflage der „freien Markwirtschaft“

von Hugo Velarde

„Lasst uns den marxistischen Krebs entfernen.“[1]

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Am 11. September 1973 wurde Chile von einem Putsch erschüttert, der bis dahin an Effizienz und Radikalität in Südamerika seinesgleichen suchte.[2] Eine antikommunistische Allianz mit Hilfe der „Amerikaner“ zerschlug die demokratisch gewählte Regierung des Sozialisten Salvador Allende, in deren Folge die „neoliberale Wende“ in Südamerika eingeleitet wurde. Es waren die „Chicago Boys“, die unmittelbar nach dem Putsch das neue Wirtschaftsmodell radikaler Privatisierung und Schock-Politik im Auftrag des diktatorischen Regimes[3] umsetzten, was drastische Veränderungen der bisherigen Eigentums- und Einkommensverhältnisse zur Folge hatte.[4]

Obgleich das als liberal geltende Bürgertum mehrheitlich auf seine „zivile Gesinnung“ und „patriotische Verfassungstreue“ stolz war, stimmte es letztlich den Gewaltmaßnahmen gegen den „kommunistischen Krebs“ zu. Ausnahmezustand oblige. Bei einem Bedrohungsszenario, das zuerst von den ultrakonservativen Medien und mit paramilitärischen Stoßtrupps in den Straßen inszeniert wurde, schien jede Abwägung oder gar Zurückhaltung töricht. Das Ziel war, „die verheerende Toleranz“ gegenüber dem fremdgesteuerten Krebs im Land zu beenden. Den „Radikal Freien“ (für Gott, Vaterland und Familie) galt nun als dringendste Aufgabe der kompromisslose Kampf gegen die „freien Radikalen“, die durch den „bolschewistischen Antichrist“ aus „Russland“[5] und Kuba ins gesunde Gewebe des Vaterlandes eingeschleust worden waren.

Nach einer Generalprobe, die als „Tanquetazo“[6] zunächst für Spott sorgte, stürzte das chilenische Militär – in enger Abstimmung mit der CIA und paramilitärischen Stoßtrupps der „Patria y Libertad“[7], die aus dem eigenen nationalistischen Mist hervorgegangen war – den am 24. Oktober 1970 gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Es bildete sich eine Junta[8], an deren Spitze General Pinochet[9] stand. Damit wurde ein weiterer Zyklus der „Abwehr des kommunistischen Krebses“ abgeschlossen, so die „frohe Botschaft“ der gleichgeschalteten christlich-patriotischen Radiosender und Presse.

Beim patriotischen Pathos blieb es allerdings nicht. Der Antikommunismus kam auch mit „wissenschaftlicher Nüchternheit“ daher: Friedrich von Hayek und Milton Friedman hatten den wirtschaftspolitisch antisozialistischen Weg konzipiert, der nun in Chile zur Schaffung offener Märkte gegen das „irrsinnige Planungskommando“ durchgesetzt wurde. Einige Jahre später sollte Margaret Thatcher – expressis verbis eine Freundin des chilenischen Diktators – ihre in Großbritannien implementierte neoliberale Offensive zur „Vitalisierung“ offener Märkte auch „Kontinentaleuropa“ zur Nachahmung empfehlen.[10]

Den marxistischen Krebs entfernen:  Unter dieser Losung  übertrumpfte erst der argentinische Militärputsch vom 24. März 1976 unter der Führung vom General Rafael Videla die Ereignisse in Chile. Systematische Morde, massive Unterdrückung und Verletzung von Menschenrechten bis 1983 – in nur sieben Diktaturjahren starben etwa 30.000 Argentinier. Und die „Amerikaner“ steckten mitten drin. Ihre Außenpolitik gegenüber Iberoamerika glich weiterhin einem blutigen Laissez-faire mit gepanzerter Gewalt.

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Es war eine besonders gewaltsame Interventionssequenz aus der antikommunistisch abgewandelten Doktrin der „Pax Americana“, die mit einer nachträglichen Auslegung der „Monroe-Doktrin“[11] einherging. Sie brachte den anmaßenden Kontinentalanspruch jener Vereinigten Staaten zum Ausdruck[12], die 1776 ihre Unabhängigkeit erlangt hatten, jedoch in „ihrem“ Land den „naturgemäß“ als „minderwertig“ geltenden Ureinwohnern und zur Sklaverei „geborenen Negern“ alle nationalen Rechte vorenthielten.

„English for usual“ hieß einst die Parole der Seeräuberei, „American for usual“ hieß jetzt ihre postkolonial-bürgerliche Variante. Der Aufstieg dieses „America“ zur imperialen Macht war eingebettet in die Konfrontation mit den subkontinental verlängerten Armen Spaniens und Portugals im vorkapitalistisch geprägten „Iberoamérica“[13]. Ihre nach Bürgerlichkeit und Zivilität strebendenden Nachkommen im frühen 19. Jahrhundert rebellierten zwar gegen Rückständigkeit, Zersplitterung und damit ihre „condición periférica“ in der zunehmend kapitalistisch werdenden Welt, blieben letztlich jedoch in postkolonialer Unterentwicklung verhaftet. Diese Entwicklung untermauerte den hegemonialen Anspruch des „American for usual“ langfristig. So erklärt es sich historisch auch, mit welcher Selbstverständlichkeit die „amerikanische“ CIA unter ihrem damaligen Chef Richard Helms einen verheerenden Propagandakrieg gegen die Unidad Popular entfachte[14], die auf dem Weg war, etwas zu schaffen, was verheerender als die kubanische Revolution zu werden drohte und das es daher mit allen Mitteln zu verhindern galt: Sozialismus mit und in parlamentarischer Demokratie, der der heiligen Kuh der kapitalistischen Vergesellschaftung mit und in Privateigentum entgegenstand und auch nicht nur die Arbeiterschaft, sondern weite Teile der Zivilgesellschaft mit einem gebildeten, breiten Mittelstand umfasste.[15] Allerdings gelang es, diesen Mittelstand zu spalten. Selbst gegen die heutige linke Regierung von Gabriel Boric wird diese Taktik als probates konterrevolutionäres Rezept angewendet[16], was auch zu einer breiten Debatte über den Weg zum Sozialismus führt, der auch einst nicht hätte scheitern müssen.[17]

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Alle diese Konflikte sind in einer langen Geschichte tief verwurzelt. Iberoamerika[18] erlangte ihre eigene Souveränität in Anlehnung an die Französische Revolution und den sie juristisch systematisierenden „Code Napoleon“.[19] Dessen umfassende Menschenrechtsintention aber blieb politisch „naturrechtlich“ nur den weißen Oberschichten vorbehalten und wurde dadurch seines Universalismus beraubt. Was universalistische Gültigkeit erlangte, war ausschließlich jene Pax Americana einstig verhasster „Piratas“[20], der sich nun allmählich auch die herrschenden Nachkommen stolzer „Iberer“ zu unterwerfen hatten.

Und so nahm die Spaltung ihren historischen Lauf: América para los americanos – oder America for americans. Es war ein tragischer Konflikt Shakespeareschen Ausmaßes, erlitten von Iberern, Indigenen oder Schwarzen; während der imperiale Norden, bereits bürgerlich als „blonde Bestie“ maskiert, eine gewaltsame Groteske gegen Eingeborene und „Neger“ aufführte. Amerika, hier und dort: Die folgenreiche Projektion des europäischen Mutterlandes, die den Vorabend einer transkontinentalen Globalisierung einläutete. „Europa siegt, indem es entbindet.“[21] Helmuth Plessners Fazit gilt für die gesamtamerikanische Verlängerung der europäischen Kultur und Zivilisation, die, nach innen und außen maßlos, gewaltsam, verbrecherisch und furios weltgeschichtliche „Dignität“ erlangte.

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Chiles Impuls und Tragödie auf dem gescheiterten Weg zum Sozialismus hatte selbst einen entscheidenden Hintergrund: Die Unidad Popular entstand und agierte innerhalb eines revolutionären Zyklus der frühen 1970er Jahre, der aus dem Ereignis der Niederlage von Ñancahuazú[22] hervorgetreten war – aus dem Schatten des noch ärmeren und tragischeren Bolivien und der Ermordung des Argentiniers Ernesto Che Guevara am 9. Oktober 1967.

Beilage im  Abwärts! Nr. 49.

[1] So General Gustavo Leigh am 11. September 1973. – Zitat aus Hugo Latorre: „Del cáncer marxista al cáncer neoliberal“. Radiosendung vom 15. März 2018. Vgl. vom selben Autor: „Der neoliberalistische Krebs erzeugt Prozesse ‚inorganischen Chaos‘, d. h., der Zellenkorpus der Gesellschaft zersetzt sich mangels der Fähigkeit, einen einheitlichen, organischen Bezug herzustellen.“ In: https://radio.uchile.cl/2018/03/15/del-cancer-marxista-al-cancer-neoliberal/

[2] „Preußisch, perfekt, potent. Ein dreifaches ‚P‘ für Chiles Befreiungsschlag“, titelte die bolivianische Zeitung El Diario aus La Paz am 12. September 1973.– General Hugo Banzer, der 1971 in Bolivien durch einen Putsch gegen den kommunistischen Krebs an die Macht gekommen war, ließ seinem Kollegen Pinochet eine aufrichtige Gratulation zukommen, die von beiden Diktatoren mit der „Umarmung von Charaña“ an der Grenze zu Chile am 8. Februar 1975 bekräftigt wurde.

[3] Es handelte sich um einen Faschismus, der dem südeuropäischen (Italien, Spanien, Portugal, Griechenland) an Autoritarismus und Religiosität analog war. Mit dem Unterschied allerdings, dass jener an die neoliberale  Akkumulationslogik des Kapitals anknüpfte. Dem ökonomisch schlanken Staat stand der massiv repressive Überwachungsstaat gegenüber.

[4] Vgl. José Víctor Núñez Urrea: „Neoliberalismo, cáncer y plebiscito.“ In: La ventana ciudadana vom 2. November 2020. Siehe: https://laventanaciudadana.cl/neoliberalismo-cancer-y-plebiscito/

[5] Statt von der Sowjetunion sprach man vom Russland oder im Singular von dem Russen – in Anlehnung an alte und  neue Abfälligkeiten faschistoider Provenienz.

[6] Etwa „Panzergeknalle“, ein dilettantischer Putschversuch gegen die Unidad Popular am 29. Juni 1973, der unter der Führung von Carlos Prats, dem regierungstreuen Oberbefehlshaber der Armee, niedergerungen wurde.

[7] Vaterland und Freiheit, eigentlich „Frente Nacionalista Patria y Libertad“. Faschistische paramilitärische Organisation, die am 1. April 1971 zur Auflehnung gegen die Unidad Popular gegründet wurde. Siehe: José Díaz Nieva: „Patria y Libertad. El nacionalismo frente a la Unidad Popular“. Santiago. In: Centro de Estudios Bicentenario, 2015.

[8] Ihr gehörten neben Augusto Pinochet General Gustavo Leigh, Admiral José Toribio Merino und General César Mendoza an.

[9] Pinochet regierte bis zum 11. März 1990. Es waren siebzehn lange kriminelle Jahre. Obwohl er in London verhaftet wurde (siehe: https://www.ecchr.eu/veranstaltung/der-pinochet-effekt-wirkung-transnationaler-gerichtsverfahren/), starb er ungestraft, was internationale Empörung zur Folge hatte. Siehe Nikolaus Nowak: „Fall Pinochet: Empörung in Spanien über Gespräche mit Chile“. In: Die Welt vom 8. August 1999. https://www.welt.de/print-welt/article579441/Fall-Pinochet-Empoerung-in-Spanien-ueber-Gespraeche-mit-Chile.html.

[10] Siehe Wolfgang Engler: „Die offene Gesellschaft und ihre Grenzen“. Matthes & Seitz Berlin 2021, S. 74: „den Vormarsch des Sozialismus stoppen“, das war ihr wörtlich ausgesprochenes Ziel. Vgl. Margaret Thatcher: „Die Erinnerungen 1925-1979“, Düsseldorf 1993, S. 657.

[11] Prinzip der Nicht-Einmischung fremder Mächte in die Belange Amerikas bei unumkehrbarer Unabhängigkeit der Staaten auf dem amerikanischen Doppelkontinent, das auf den US-Präsidenten James Monroe (Rede zur Lage der Nation vom 2. Dezember 1823) zurückgeht. Eine „Pax Americana“ sollte folglich auch die Einmischung kommunistischer Mächte ausschließen, von der nun Chile durch den Bolschewismus als satanische „Pax Sovietica“, die bereits in Kuba „Fuß gefasst“ habe, „bedroht“ war.

[12] Südlich angrenzend entstanden 1810 die Vereinigten Staaten von Mexiko, deren Unabhängigkeit erst 1821 von Spanien anerkannt wurde. In diesem Zusammenhang sei an die wiederholte „semantische“ Versöhnungsrede von Barack Obama am 17. Dezember 2014 erinnert: „Todos somos americanos“ – Wir alle sind Amerikaner. Siehe: „Las frases español en el histórico discurso de Obama“. In: https://www.bbc.com/mundo/video_fotos/2014/12/141217_video_barack_obama_discurso_espanol_vp

[13] Siehe die auch historisch interessante Studie von Alke Jenss: „Weite Reise für Poulantzas. Analyse von Staatlichkeit und Gewaltverhältnissen im lateinamerikanischen Kontext“. In: „Mit Poulantzas arbeiten … um aktuelle Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu verstehen“ (Herausgegeben von Tobias Boos, Hanna Lichtenberger, Armin Puller), VSA Verlag Hamburg, 2017, S. 232-254.

[14] Siehe „Church Report. Covert Action in Chile 1963-1973.” In: https://web.archive.org/web/20090911173014/http://foia.state.gov/Reports/ChurchReport.asp

[15] Siehe Marta Harnecker/Gabriela Uribe: „Alianzas y frente político. Cuadernos de Educación Popular. Segunda serie: para luchar por el socialismo.” Editora Nacional Quimantú, Santiago de Chile 1973.

[16] Siehe Franck Gaudichaud: „Neuanfang in Chile.” In: LE MONDE diplomatique vom 13. Januar 2022. https://monde-diplomatique.de/artikel/!5812125

[17] Siehe Johnny Norden: „Die Unidad Popular musste nicht scheitern. Die Sieg-Chancen der Regierung Allende waren größer als bisher angenommen.“ In: Neues Deutschland vom 6. Mai 2006 (https://www.nd-aktuell.de/artikel/89989.die-unidad-popular-musste-nicht-scheitern.html).

[18] Seit 1860 und erst universell 1870 „Lateinamerika“. Dabei ist zu beachten, dass diese Bezeichnung auf den französischen Wirtschaftsliberalen und Panlatinisten Michel Chevalier zur Abgrenzung vom angelsächsischen, protestantischen Norden zurückgeht. Verbreitet wurde „Amérique latine“ jedenfalls von Ideologen um Napoleon III., um frankophil in Mexiko eine imperiale Enklave gegen die USA zu etablieren. Siehe: Rubén Torres Martínez: „Sobre el concepto de América Latina. ¿Invención francesa?“ In: Cahiers d’études romanes. Siehe: https://journals.openedition.org/etudesromanes/5141

[19] Oder code civil, d. h. das bürgerliche Gesetzbuch vom 1804, das in die Verfassung der meisten jungen iberoamerikanischen Republiken eingebettet wurde.

[20] So die damals despektierliche Bezeichnung für Engländer und ihre Nachfahren in Amerika.

[21] Helmuth Plessner: „Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht“ (1931). In: Gesammelte Schriften V. Macht und menschliche Natur, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1981, S. 164.

[22] Dazu Ernesto Che Guevara: „Bolivianisches Tagebuch.“ Vollständige und erweiterte Ausgabe. Übersetzt von Horst-Eckart Gross. Kiepenheuer & Witsch. 3. Auflage, 2008, 336 S.

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