Die Avantgarde mag gescheitert oder gestorben sein oder sich zu Tode gesiegt haben – verschwunden ist sie nicht. Jene Avantgarde, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts europaweit aufbrach, um mit der Kunst auch die Welt zu verändern – sie ist in der gegenwärtigen Literatur und Kunst überraschend präsent, ist virulent und alles andere als obsolet. Für ihre Aktualität steht hier die Metapher vom Gespenst.
Gespenster der Avantgarde – es geht nicht um die Frage nach einer möglichen avantgardistischen Literatur heute, sondern um ‚Avantgarde‘ und avantgardistische Manifestationen als Ausgangspunkt und Katalysator aktueller Literatur und Kunst. Der Band versammelt einschlägige Texte und Dokumente, Bilder sowie Kommentare des Herausgebers, eine zitatgespickte Text-Collage, die als Materiallager dienen mag, nicht als Monographie. Um das Schlüsselwort ‚Avantgarde‘ zu beleuchten, steht am Anfang eine Sammlung aktueller Äußerungen zum Thema. Sie bewegen sich zwischen den markanten Bemerkungen zweier illustrer Autoren: „Der Begriff der Avantgarde bedarf der Aufklärung“, schreibt Hans Magnus Enzensberger; Heiner Müller notiert: „Ich weiß nicht, was Avantgarde ist.“
Wenn hier Gespenster der Avantgarde aufgerufen werden, so mag diese Metapher an aktuelle Diskurse erinnern, die spätestens seit der Schrift Marx’ Gespenster von Jacques Derrida geläufig sind. „Dieses Mitsein mit den Gespenstern“, schreibt Derrida, „wäre auch – nicht nur, aber auch – eine Politik des Gedächtnisses, des Erbes und der Generationen.“ In der Tat kann der totgeglaubten und doch lebendigen Avantgarde eine wahrlich ‚gespenstische‘ Existenzweise zukommen:
Der Autor ist Literaturwissenschaftler mit den Arbeitsschwerpunkten Literatur und Kultur sozialer Bewegungen und europäische Avantgarde. Zuletzt erschienen: „Projekt Avantgarde“ (2019); Heinrich Vogeler: Schriften (Mit-Hrsg., 2022). Bei BasisDruck gab er die PAMPHLETE Nr. 1 (Franz Jung) und Nr. 28 (Emil Szittya) heraus.