Utz Rachowski

Namenlose

Erzählungen

Zeitgeschichten 10, mit sieben Fotografien von Bernd Markowsky und einer Nachrede von Wolf Biermann, Broschur, 196 Seiten, 7 Fotos, 1993

ISBN-10: 3-86163-058-3, ISBN-13: 978-3-86163-058-6,

 

 

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„Hier ist ein Autor, der die Konflikte unserer Zeit am eigenen Leib erfahren hat und sich trotzdem nicht abschrecken läßt, ein Deutsch zu schreiben, das an die beste Tradition deutscher Prosa anknüpft.“ (Hans Sahl, New York, 20.02.1985)

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JEDER IST EIN NAMENLOSER

Rezension zu Utz Rachowskis Prosaband „Namenlose“ von Dieter Kalka

Es gibt selten Bücher, die wirklich beeindrucken, und noch seltener ist es der Fall, dass Seelenverwandte einander finden oder dass ein Autor in die verschwiegenen Tiefen des Ozeans vordringt mit nichts als gedruckten Worten und etwas aufwühlt, wonach Taucher, wie nach gesunkenen Schiffen, Jahrzehnte suchen würden.

Wenn ich in Rachowskis Buch lese, fühle ich mich zurückversetzt in die 70-er Jahre, in das Auf und Ab der Jugendzeit mit allen Hoffnungen, die schwanden. Ich fühle mich erinnert, wie ich die Deformierungen an mir selbst beobachtet habe und deren Auswirkungen: Das Vergessen. Das Anderssein. Einwilligen in das, was ich vorher ablehnte. Nicht aus Karriere. Zum nackten Überleben.

Die 90-er Jahre neigen sich dem Ende zu, das Jahrtausend wird zugeklappt und damit auch die Nachwendeperiode, die Nachrevolutionsperiode hätte heißen können. Aber es war nur eine Wende und meist die der Hälse. Eine Wende nach rechts oder links, je nachdem, wie man definiert, was vorher war: Blutspenderot oder Schwarzorthodox.

Rachowskis Haltung ist die eines Unterwegsseienden, der ankommt, registriert, im Gepäck schon die Geschichte seines Abschieds beschrieben. Einer, der nicht rasten kann, weil Raster ihn beschädigten, als er rasten wollte – damals in Reichenbach, im Vogtland, in Thüringen, Sachsen. Prägungen, Vorprägungen.

Auch schon die Hinnahme, dass für ihn nichts weiter bleibt, als der Sehnsucht nachzustarren, die über der Grenze im Eichsfeld hauste, im Dorf, wo die einst Geliebte aufwuchs. Einst. Die, verheiratet, er mit dem Ehemann teilte, als sei in diesem Land nichts Ganzes möglich für ihn. Am Tag, als sie ganz zu ihm ziehen wollte, wurde er verhaftet. Im Exil sah er sie wieder. In Göttingen. Lief hinter ihr her. Rief ihren Namen. Sie war es nicht. Er fuhr durch die Dörfer an der Grenze, sah hinüber ins heimatliche Land, suchte das Dorf, von dem sie erzählte. Leicht zu erraten, ob er es fand.

So gehen Rachoswkis Geschichten: Über den armenischen Soldaten Tehemesian, der schwerverwundet in einer Scheune in Thüringen liegt, in seinen Fieberphantasien auf den Vater wartet, der ihn heimholen wird. „Ich höre die Hunde, ich höre das Schlagen der Maschinenpistolen, und aus dem fahlblauen fremden Himmel zuckt der erste Blitz in mein Fenster“, endet der Monolog.

„In drei Sekunden bin ich tot“, so der Schluß des ersten Textes im Buch – über Johann Christian Woyzeck, gehenkt zu Leipzig. Einer, der sich totgeliebt hat, der getötet hat aus Leidenschaft. Zu einer Frau. Mag sie Heimat heißen. Mag sie heißen Marie.

Auf diese drei Sekunden konzentriert sich Rachowskis Prosa: der Reichtum der Einsamkeit – im letzten Augenblick empfunden. Das, was man sich weggetrunken, weggeträumt, weggeliebt, wegphilosophiert hat – unausweichlich steht es als etwas wie die Wahrheit, als Henker vor dir. Heut oder später. Irgendwann sind’s drei Sekunden: im Operationssaal, im Bett, in der Schwäche, im Wahn – wenn der Moment kommt, wo du spürtst: DA waren die Deformationen, DAS war die Feigheit und DAS hat sie angerichtet und darum das Ende – in … drei Sekunden.

Rachowskis Prosa ist mehr als die Erinnerung an eine Epoche deutscher Diktaturgeschichte, mehr als das Verdrängte, konzentriert wie Sprengstoff in kurzen Texten, die herausfordern, sich zu erinnern. In der Existentialität verweisen sie auf Vorbilder wie Büchner, Kleist. Rachowski erhielt für die Erzählungen den Förderpreis zum Eduard-Mörike-Preis. Die Laudatio dazu hielt Wolf Biermann, sie ist als Nachwort im Band abgedruckt.

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